Drei Wochen nach dem Attentat auf das Westgate-Einkaufszentrum in Nairobi ist immer noch nebulös, was dort eigentlich genau geschehen ist. Zunächst las sich alles etwa so: Drei Autos halten am Samstag, dem 21. September 2013, vor der Mall im Westen der kenianischen Hauptstadt. So berichten es Augenzeugen, die auf dem Parkplatz davor stehen, als die Autos zum Halten kommen. Zwischen zehn und fünfzehn Vermummte sollen sich ihnen zufolge in Gruppen aufgeteilt haben und losgerannt sein. Minuten später eröffnen sie auf dem Parkdeck im dritten Stock und hinter dem Eingang im Erdgeschoss das Feuer, während die Nachhut auf Passanten schießt. Das brutale Attentat, so sieht es aus, war minutiös geplant. Doch wie viele Täter waren es tatsächlich? Bilder aus den Überwachungskameras zeigen nur vier Attentäter. Kann es sein, dass nur so wenige ein ganzes Gebäude mit mehreren tausend Besuchern unter ihre Kontrolle bringen?
Was man bisher weiß, fasst – mit allen Widersprüchen – der britische Guardian herausragend zusammen. Denn mit dem Attentat auf die Westgate-Mall beginnt auch die Propaganda-Maschine der kenianischen Regierung anzulaufen mit der Folge, dass sich dutzende Gerüchte und Fehlinformationen verbreiteten. Vier Tage lang hält die kleine Gruppe von Terroristen hunderte SoldatInnen und Spezialkräfte in Schach; in zwei großen Taschen soll sie Sprengsätze und Munition mitgebracht haben. Womöglich hatten sie bereits ein Ladenlokal gemietet, in dem sie Munition und Sprengstoff lagerten. Wie konnte das sein? Schließlich stand die Westgate-Mall auf der Liste möglicher Terrorziele in Kenia ganz oben – das wussten nicht nur die israelischen Besitzer.
In den vier Tagen, die die Belagerung dauert, hören Journalisten und andere Augenzeugen immer wieder Schüsse und Detonationen. Damals glauben alle, dass die Terroristen sich Gefechte mit der Armee liefern, die behutsam vorgeht – auch deshalb, weil Geiseln in der Hand der Terroristen vermutet werden. Doch inzwischen zeichnet sich ein ganz anderes Bild: als Ladenbesitzer und Angestellte wieder ins Westgate zurückkehren, sind die Läden ausgeraubt. Von wem? „Von den Soldaten natürlich“, prangert der Geschäftsführer des Nakumatt-Supermarkts in der New York Times an. Alles sieht danach aus, als hätten Kenia und die Welt vor allem deshalb tagelang um die angeblichen Geiseln im Westgate gebangt, weil Kenias Militär einen hochprofessionellen Raubzug im Einkaufszentrum abzog. Brieftaschen wurden selbst aus den bluttriefenden Hosentaschen der Leichen gezogen. Bilder zeigen zudem, wie im Westgate regelrechte Alkoholgelage stattgefunden haben müssen – wohl kaum von vier Islamisten.

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte: der tansanische Cartoonist Gado trift den Nagel wieder einmal auf den Kopf. (http://gadocartoons.com/rescue-operation-footage-never-seen-westgate/)
Kaum vorstellbar, wie so etwas ohne Wissen von ganz oben möglich gewesen sein soll. Noch entscheidender dürfte aber die Frage sein, wer genau den Anschlag geplant und durchgeführt hat. Die islamistische Shabaab aus Somalia bekannte sich nach wenigen Stunden mit einer Audio-Botschaft und über ihren Twitter-Feed (der in den kommenden Tagen immer wieder neu eingerichtet wurde) zu dem Anschlag.
Shabaab-Chef Achmed Abdi Godane, genannt Abu Zubeir, kommt der Erfolg gerade recht. Denn intern brodelt es bei den Islamisten. Seit der heute 37-jährige vor fünf Jahren den Posten des Emirs der Shabaab übernommen hat – sein Vorgänger Aden Hashi Ayro war von einer US-Drohne getötet worden – ging es mit der Bewegung bergab. Zuletzt stellte selbst einer seiner engsten Vertrauten, Ibrahim Al-Afghani, Abu Zubeirs Treue zur Al-Kaida in Frage – in einem offenen Brief an Al-Kaida-Chef Al-Zawahiri. Abu Zubeir ließ Al-Afghani dafür hinrichten, ebenso wie den amerikanischen Dschihadisten „Al-Amriki“. Andere Kritiker mussten fliehen und drohten damit, die Shabaab entlang Clan-Linien zerbrechen zu lassen. Für Abu Zubeir, dessen Clan im Süden Somalias bedeutungslos ist, wäre das das Ende gewesen. Mit dem Anschlag in Nairobi aber ist das Problem gelöst – zumindest vorläufig. Zwar befindet die Shabaab sich in Somalia weiter militärisch unter Druck, doch kann dem Emir jetzt kaum noch jemand seine Stärke und Entschlossenheit absprechen.
Fast noch wichtiger dürfte sein, dass Abu Zubeir der Al-Kaida-Führung seine Treue zum globale Dschihad unter Beweis gestellt hat. Hilfe der Al-Kaida braucht die Shabaab dringend, seit die kenianische Armee die Hafenstadt Kismayo befreit hat. Alleine mit der Verschiffung von Holzkohle sollen die Islamisten dort mehr als 36 Millionen Franken jährlich gemacht haben – Geld, das ihnen für den bewaffneten Kampf gegen den seit einem Jahr regierenden Präsidenten Hassan Sheikh Mohamud und die knapp 18.000 afrikanischen Friedenstruppen in Mogadischu fehlt. Ein Ziel des Anschlags dürfte daher auch sein, die öffentliche Meinung zu drehen und Kenias Truppen zum Abzug aus Somalia zu zwingen. Dann, so die Hoffnung, könnte die Shabaab Kismayo wieder einnehmen. Mehr zu den Hintergründen habe ich in einem Stück für den Deutschlandfunk erläutert.
Die Beteiligung der Shabaab ist unbestritten. Doch die Täter waren nicht alle Somalis. Zwei von ihnen sollen Kenianer gewesen sein, was zeigt, wie sträflich die Regierung in Nairobi die Aufklärung der in Kenia vorhandenen terroristischen Strukturen vernachlässigt hat. Immer deutlicher wird auch, wie Korruption bei den Grenzbehörden, der Polizei, dem Geheimdienst und praktisch allen Instanzen der Regierung das Attentat erst möglich machte. Für Kenia ist das Attentat auf die Westgate-Mall deshalb ein schwerer Schlag. Er legt offen, wie schlecht es um die kenianische Anti-Terror-Abwehr steht.

Von den Tätern fehlt bis heute jede Spur (http://gadocartoons.com/where-did-the-terrorists-go/)
Nebelkerzen wie die angebliche Beteiligung ausländischer Terroristen, angeblich auch eines Deutschen, die nie bewiesen werden konnten oder sogar offenkundig falsch waren, sollten womöglich ebenso davon ablenken wie es jetzt Übergriffe auf ethnische Somalis und Muslime an Kenias Küste sollen. Darin liegt eine der großen Gefahren des Attentats: wenn Kenia jetzt auseinanderbricht anstatt zusammenzuhalten, hätte die Shabaab eines ihrer wichtigsten Ziele erreicht. Dass – wie in Kenia üblich – keiner der Täter den Anschlag überlebt hat und die Regierung sich über angebliche Mittäter in Schweigen hüllt, erhöht das Vertrauen der Bevölkerung nicht.