Der mit den Pygmäen singt

Gesammelte Regentropfen sind für die BaAka die wichtigste Trinkwasser-Quelle

Gesammelte Regentropfen sind für die BaAka die wichtigste Trinkwasser-Quelle

Eines der faszinierendsten Länder Afrikas ist für mich die Zentralafrikanische Republik. Das Land im Herzen Afrikas ist bis heute kaum erschlossen. Kein Wunder, denn auf der doppelten Fläche Deutschlands leben gerade einmal viereinhalb Millionen Menschen. Zu ihnen gehören die BaAka, ein Pygmäenvolk. Um es zu besuchen, muss man von der Hauptstadt Bangui mehr als 14 Stunden auf Pisten zurücklegen, die kaum breiter als ein Landrover sind. Dann ist es noch einmal ein langer Fußmarsch durch die sengende Hitze bis zur Siedlung der BaAka, die am Rand des Regenwalds liegt. Hier, am Ende der langen Reise, treffe ich die Pygmäen – und einen Amerikaner, der sich bei ihnen häuslich eingerichtet hat.

An den Moment, als sich sein Leben veränderte, kann Louis Sarno sich nur noch verschwommen erinnern. Es war ein Abend in Amsterdam, wo der Amerikaner seit ein paar Monaten arbeitete. Das Transistorradio war angeschaltet, eine Stimme sagte das nächste Stück an, Sarno hörte nur mit halbem Ohr hin. Dann traf es ihn wie aus dem Nichts. „So eine Musik hatte ich noch nie gehört, ich war wie verzaubert und habe gelauscht, bis der letzte Klang vorüber war.“ Es dauerte ein bisschen, bis er herausfand, was er da gehört hatte: die Stimmen und Instrumente der Pygmäen aus Zentralafrika.

Die kleinwüchsigen Pygmäen sind die vermutlich ältesten Bewohner Zentralafrikas. Überlieferungen, die von ihnen berichten, reichen viereinhalb Jahrtausende zurück. Bis heute leben sie von dem, was der Wald hergibt. Insekten sind ebenso wichtig für ihre Ernährung wie Antilopen und anderes Wild, das sie mit Netzen und Speeren bewaffnet im dichten Regenwald des Kongobeckens jagen. All das wusste Louis Sarno nur schattenhaft, als er sich entschloss, seine Habe zu verkaufen und für den Erlös ein Flugticket in die Zentralafrikanische Republik zu buchen – einfacher Weg, kein Rückflug. Im Gepäck hatte er ein Aufnahmegerät und zwei Mikrofone. „Ich wollte die Musik der Pygmäen selber aufnehmen, einfach weil es einfach nicht genügend Aufnahmen gab, die mich zufrieden gestellt hätten“, erklärt Sarno schulterzuckend. Als Sarno jung war, wollte er Komponist werden: seine Vorbilder waren Mahler, Bruckner oder Schönberg. Dann erlosch das Interesse langsam, weil Sarno nur noch wenig Überraschendes in der Klassik fand. „Die Pygmäenmusik hat meine Begeisterung, zuzuhören, wieder erweckt – diese Kompositionen sind nicht linear angelegt wie das meiste von unserer Musik, sondern eher zyklisch.“

Der Amerikaner Louis Sarno lebt seit knapp drei Jahrzehnten bei den BaAka

Der Amerikaner Louis Sarno lebt seit knapp drei Jahrzehnten bei den BaAka

Aus Wochen wurden Monate, aus Monaten Jahre. „Inzwischen bin ich 56 und lebe seit gut 24 Jahren mit den Pygmäen vom Stamm der BaAka zusammen“, lacht Sarno. In Bayanga am Rande des Dzanga-Sangha-Regenwalds, ein Ausläufer des Kongobeckens im südwestlichen Zipfel der Zentralafrikanischen Republik, hat er sich eine Hütte gebaut. Doch wenn die BaAka in den Wald ziehen, lässt er sie – wie die Pygmäen selber – bedenkenlos zurück. „Im Wald werden die besonders alten Traditionen wieder lebendig, da ist die Zivilisation, die zunehmend ins Dorf einbricht, nach ein paar Stunden vergessen.“ Die BaAka müssen außer ihren Messern praktisch nichts mitnehmen – es reicht ihr Wissen, in welchen hohlen Pflanzen man Wasser findet, welche Blätter essbar sind oder wie man Waldelefanten und Gorillas ausweicht. Im Zwielicht des zentralafrikanischen Regenwald ist es niemals still. Für einen Besucher ist die Geräuschkulisse atemberaubend. Dass die BaAka Meister der Töne sind, ist kaum überraschend.

Mein Beitrag auf SWR 1 vom 2.7.12 (mit Pygmäenmusik): Jagen, sammeln, tanzen – Die BaAka-Pygmäen im zentralafrikanischen Regenwald kommen ohne Geld (noch) gut aus

Wenn die Sonne untergeht, formiert sich meist spontan ein anarchischer Chor. Stimmen fügen sich zusammen und bewegen sich wieder auseinander, dazu schlagen Musiker unterschiedliche Takte auf Trommeln oder großen Blättern, was einen knallähnlichen Laut erzeugt. Die Geeda, eine Waldharfe mit sieben Saiten, ist ein anderes Instrument, mit denen die BaAka-Pygmäen bei Ihren Festen Stücke spielen, die Stunden und ganze Nächte dauern können. Dann beginnt der Tanz. Sarno liebt etwa den Élanda, einen Tanz, bei dem Jungen und Mädchen sich im Kreis gegenüber stehen und förmlich betanzen. „Jeder gibt in der Mitte ein drei, viersekündiges Solo wie beim Breakdance“, beschreibt Sarno. „Das sind atemberaubende Bewegungen, alles geht sehr sehr schnell, die Jungen und Mädchen fließen geradezu aneinander vorbei.“ Der Élanda ist ein emotionaler, fast erotischer Tanz. „Diesen Tanz im Dunkeln nutzen die Teenager dazu, miteinander zu flirten, da werden geheime Treffen ausgemacht und Affären beginnen.“

Noch beeindruckender findet Sarno die Eboka genannten Tänze, bei denen auf einmal aus dem dichten Urwald Waldgeister auftauchen – Männer, die mit einem phosphoreszierenden Pflanzensaft angemalt sind und im Dunkeln leuchtend durch die Bäume zu fliegen scheinen. Das symbolische Beschwören der Mokoondi genannten Geister ist besonders wichtig vor einem großen Ereignis: einer Jagd oder einer Hochzeit. „Alle paar Jahre werden die jungen Männer initiiert: dann taucht der Ejengi auf, ein Geist in einem Blätterkostüm, der manchmal Tage, manchmal auch Wochen bleibt“, weiß Sarno. Er selbst hat den Ritus miterlebt. „Wenn der Ejengi im Dorf ist, ist alles andere vergessen- erst wenn er wieder fort ist, nehmen die BaAka ihre normale Arbeit wieder auf.“

Was Sarno faszinierend findet, finden viele Nachbarn der Pygmäen schlicht primitiv. „Die Wilden“, sagt Joe, ein Barbesitzer im nahen Bantu-Dorf, „tanzen und trinken und haben Spaß, aber von denen arbeitet doch keiner.“ Dabei, sagt Sarno, haben die BaAka schlicht einen vollkommen anderen Alltag, den die ‚hochgewachsenen‘ Zentralafrikaner nicht verstehen – oder nicht verstehen wollen. „Gegen Pygmäen wie die BaAka gibt es Vorurteile und Rassismus“, hat Sarno festgestellt. Viele Bantu glaubten, die Pygmäen seien Untermenschen oder zumindest minderbemittelt. „Sie werden wie kleine Kinder behandelt oder wie Sklaven, was sie früher ja auch waren.“ Als Sarno in Bayanga ankam, durfte man BaAka noch ‚besitzen‘. Inzwischen ist das entsprechende Gesetz verändert worden. „Dafür machen die Behörden Druck, dass die BaAka sich fest ansiedeln und ‚ordentliche Bürger‘ werden sollen – ihre Traditionen sollen sie möglichst ablegen.“

In den fast drei Jahrzehnten, die Sarno in Bayanga verbracht hat, hat er bereits die ersten Veränderungen wahrgenommen. „Der größte Wandel ist vielleicht der, dass die junge Generation nicht mehr so viel über das Leben im Wald weiß wie die Eltern“, so Sarno. „Das Leben im Wald ist aber auch schwieriger geworden, weil es dort immer weniger Tiere gibt, wegen der Wilderei.“ Auch die traditionelle Musik, die ihn hierher verschlagen hat, sei im Dorf immer seltener zu hören. „Erst haben die Jugendlichen Pop aus Ghettoblastern gehört, die die Fulani-Händler aus Nigeria hier verkauft haben.“ Doch schon bald waren die Batterien alle und es fehlte das Geld, neue zu kaufen. „Jetzt tanzen die Jugendlichen wieder und machen selber Musik, allerdings Musik, die die Fulani hierhergebracht haben, viele kennen die BaAka-Melodien gar nicht mehr.“

Mit den Jahren ist der weiße Amerikaner, der die meisten BaAka um mehrere Köpfe überragt, nicht nur ein Teil der Dorfgemeinschaft geworden, sondern auch ihr Anwalt. Wenn es wieder einmal Streit mit dem Bürgermeister gibt, weil die BaAka sich neuen Gesetzen und Regeln nicht beugen wollen, greift Sarno ein. Auch um ein Krankenhaus hat er sich gekümmert, wo kranke BaAka behandelt werden können. „Das System funktioniert so: wer ärztliche Hilfe braucht, bekommt von mir einen kurzen Brief mitgegeben, den der Arzt zu den Akten heftet – sobald ich dann Geld habe, zahle ich alle Rechnungen auf einmal.“ Sarno will nicht akzeptieren, dass die BaAka in der Gesellschaft, die ihnen von der Regierung aufgezwungen wird, automatisch zum Bodensatz gehören. Viele BaAka, sagt er, versinken schnell in einer Schuldenfalle, weil sie von Geld und dem Wirtschaften damit schlicht keine Ahnung haben. „Wenn man Jäger und Sammler ist, hat man mit Münzen und Scheinen schlicht nichts zu tun.“

Ein Gorilla im Dzanga-Sangha-Nationalpark

Ein Gorilla im Dzanga-Sangha-Nationalpark

Immerhin haben einige BaAka im Nationalpark von Dzanga-Sangha, der mit Hilfe des WWF und der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit aufgebaut wurde, Erwerbsarbeit gefunden: die waldgewandten Pygmäen führen Touristen zu Gorillafamilien und zu Lichtungen, auf denen Waldelefanten zu sehen sind. Ohne sie wären diese Besuche nicht möglich, geben auch die Behörden zu. Daran gemessen, ärgert sich Sarno, profitieren die BaAka aber viel zu wenig. „Auch Hilfsgelder erreichen uns nicht“, klagt Sarno. Bei einem Treffen wurde kürzlich vereinbart, dass aus einem EU-Fonds Macheten, Schaufeln und vieles andere gekauft werden sollte, um Plantagen anzulegen. „Bis heute haben wir nichts davon gesehen.“ Sarno und einige BaAka haben deshalb die Eigeninitiative ergriffen: vermögenden Abenteuerreisenden bieten sie an, Tage oder Wochen mit den BaAka im Regenwald zu verbringen – im Original-Pygmäenstil. „Einige haben das schon gemacht, und sie waren begeistert.“

Für die Zukunft wünscht sich Sarno, dass sich nicht nur die BaAka an die Bantu-Gesellschaft anpassen, sondern dass auch umgekehrt eine Annäherung stattfindet. „Wir könnten viel von den BaAka lernen“, sagt Sarno. „Etwa, vorurteilsfrei und tolerant zu sein.“ In der Pygmäengesellschaft beeindruckt Sarno zudem bis heute, wie wenig nachtragend jeder einzelne ist. „Wir haben soviele Kriege und Konflikte, weil wir uns ständig über Vergangenes aufregen – bei den BaAka gibt es das nicht.“ Dass die anarchisch organisierten BaAka sich weigern, Dorfchefs oder Bürgermeister zu benennen, mag ein weiterer Grund dafür sein, dass die Pygmäengesellschaft keine Kriege kennt. „Die BaAka lachen nur über Menschen, die ihre Autorität aus Hierarchien ableiten.“ Trotz aller Probleme, sagt Sarno, sind es solche Einsichten, warum er seinen Entschluss, mit den BaAka zu leben, nie bereut hat. „Dia BaAka haben mir ihre Musik gegeben, dafür gebe ich ihnen meine Lebenszeit.“ Einen gerechten Handel findet er das.