Die Männer kamen in der Nacht, mit Gewehren und Granaten, Lastwagen und einem Bus. Ihr Attentat am frühen 15. April war gut vorbereitet. In der kleinen Ortschaft Chibok stürmten die Angreifer das örtliche Mädcheninternat und trieben die Schülerinnen der Abschlussklassen zusammen. Seitdem fehlt von 243 Mädchen jede Spur, obwohl Nigerias Militär kurzzeitig behauptete, alle befreit zu haben. „Nicht ein einziges Mädchen wurde vom Militär gerettet“, regt sich Asabe Kwambura auf, die Direktorin des Internats. Von Lügen spricht sie. „Die einzige Wahrheit hier kommt von uns – wir haben die Unterlagen und die Namen der Mädchen schwarz auf weiß.
Wer ist Boko Haram? Gespräch auf Deutschlandradio Kultur, 24.4.2014
Chibok liegt im nigerianischen Bundesstaat Borno, im Nordosten des Landes, wo die islamistische Terrorgruppe Boko Haram ihre Rückzugsräume hat. Inzwischen hat sie die Entführung eingestanden. Boko Haram bedeutet übersetzt „Westliche Bildung ist Sünde“, und das Internat von Chibok ist nicht die erste Schule, die Boko Haram überfallen hat. Seit einiger Zeit greifen die Terroristen weiche Ziele an: am Tag vor der Massenentführung waren auf einem Busbahnhof am Rande der Hauptstadt Abuja zwei Bomben detoniert. Mehr als 75 Pendler starben. „Präsident Goodluck Jonathan, Du bist eine lahme Ente“, höhnte Abubakar Shekau danach in einem seltenen Bekennervideo. Shekau gilt als Anführer von Boko Haram. Zwischenzeitlich galt er schon mal als tot, erwischt von Spezialtruppen der Armee. Noch so eine Fehlinformation. „Ich bin hier, mitten in Deiner Hauptstadt – fang mich doch, wenn Du es kannst.“
Mit seinem Spott trifft Shekau einen Nerv – selbst bei der riesigen Mehrheit der Nigerianer, die ihn und Boko Haram verabscheuen. Überall in Afrikas bevölkerungsreichster Nation fragt man sich, warum es der Armee nicht gelingt, Boko Haram Einhalt zu gebieten. Es ist eine Debatte, die dem seit 2010 regierenden Jonathan gefährlich zu werden droht. Obwohl die Wirtschaft boomt, verliert er über die Krise im Nordosten massiv an Zustimmung. Im kommenden Jahr wird gewählt, und der Wahlkampf in Nigeria hat längst begonnen. Die 243 Mädchen aus Chibok bereiten dem Präsidenten schlaflose Nächte: nicht wegen dem, was ihnen angetan werden könnte, sondern wegen der schlechten Presse.
Jonathans PR-Strategen holten vor diesem Hintergrund zu einem Gegenschlag aus. Dem ehemaligen Militärherrscher Muhammadu Buhari, der 2015 für die größte Oppositionspartei, den All Progressives Congress (APC) ins Rennen geht, warf Jonathan vor, mit Boko Haram verbandelt zu sein. Buhari wiederum nennt Boko Haram „das Produkt von Jonathans gescheiterter Regierung, sein Baby“. Ex-Präsident Olusegun Obasanjo droht Jonathan in einem bewusst gestreuten Brief geradezu: „Die Gründe der Unruhen im Norden werden nicht angegangen und drohen das Land auseinander zu reißen.“
Dass die Politiker sich gegenseitig beschuldigen, hat einen Grund. Boko Haram ist keine streng religiöse Sekte, die nur nach dem Gottesstaat strebt, wie Abubakar Shekau gerne vorspiegelt. Seit ihrer Gründung ist die Bewegung ein Teil des politischen Powerplays, des brutalen Kampfes um die Macht auf allen Ebenen des nigerianischen Staates. „Paten“ werden die Strippenzieher genannt, die Wähler schmieren und bezahlte Schlägertrupps engagieren, um von ihnen installierte Kandidaten durchzusetzen. Hier hat auch Boko Haram seinen Ursprung, weiß ein nigerianischer Analyst der „International Crisis Group“. Einen ranghohen Polizisten zitiert er mit dem Satz: „Die Politiker haben die Kontrolle über das Monster verloren, das sie schufen.“
Einer der Schöpfer ist nach allem, was man wissen kann, Ali Modu Sheriff, auch wenn dieser alle Vorwürfe zurückweist. Vor zwölf Jahren wollte Sheriff Gouverneur von Borno werden, dem Bundesstaat, in dem auch Chibok liegt. In der Landeshauptstadt Maiduguri schloss Sheriff nach übereinstimmenden Berichten einen Pakt mit Mohammed Yusuf, der gerade erst eine unter Jugendlichen erfolgreiche islamische Sekte gegründet hatte: Boko Haram. Yusuf sollte Sheriffs Kampagne in der Moschee und den Armenvierteln unterstützen, im Gegenzug sagte Sheriff zu, nach seiner Wahl das islamische Shariarecht einzuführen und Geld aus der Staatskasse an die Bewegung umzuleiten. Sheriff, der ohne Unterstützung von Boko Haram chancenlos gewesen wäre, gewann die Wahl. Jahrelang flossen hohe Summen an Boko Haram, bis zu einem blutigen Massaker in Maiduguri im Juli 2009. Danach wollte Sheriff nichts mehr mit Boko Haram zu tun gehabt haben. Stattdessen erklärte er seinen Mittelsmann Buji Foi, den er zum Kommissar für religiöse Angelegenheiten gemacht hatte, zum Alleinschuldigen und schrieb ihn zur Fahndung aus. Die Polizei erschoss Foi auf einer Farm, bevor Aussagen aufgenommen werden konnten. Mohammed Yusuf kam wenige Tage später auf einer Polizeiwache ums Leben. Sheriff regierte danach ungehindert weiter.
Sheriff gehört der oppositionellen All-Nigeria People’s Party (ANPP) an, die heute zu Buharis APC gehört. Doch nicht nur von ihr ließ Boko Haram sich anheuern. Ali Awana Ngala, Vizechef der ANPP, wurde unmittelbar vor den Wahlen 2011 in seinem Haus in Maiduguri erschossen. Ngala hatte in Sherriffs Familie eingeheiratet, er galt als designierter Nachfolger des Gouverneurs. Als im November 2011 Boko-Haram-Sprecher Ali Sanda Umar Konduga festgenommen wurde, gab er im Verhör mit dem Geheimdienst zu Protokoll, auf der Gehaltsliste von Mohammed Ali Ndume zu stehen – einem aus Borno stammenden Senator der People’s Democratic Party (PDP), der auch Präsident Goodluck Jonathan angehört.
Kaum Wunder, dass vor den Wahlen im kommenden Jahr die Gerüchteküche brodelt. Dass Jonathan, Angehöriger einer Minderheitenethnie aus dem Nigerdelta, erneut als Präsident kandidieren will, sorgt im Norden Nigerias ohnehin für Aufregung. Denn einer inoffiziellen Absprache zufolge wäre eigentlich ein Muslim aus dem Norden an der Reihe. Die dortige Elite fühlt sich im ihre Machtoption betrogen. Schon gibt es Vorwürfe, Jonathan bekämpfe Boko Haram alleine deshalb nicht erfolgreich, um den seit einem Jahr geltenden Ausnahmezustand im Nordosten weiter zu rechtfertigen. In den dortigen Oppositionshochburgen könnte dann womöglich nicht gewählt werden. Andere werfen gerade der Opposition vor, den Terror anzuheizen, um Jonathans Regierung schlecht dastehen zu lassen. Nur daran, dass die Interessen der politischen Elite und die von Boko Haram eng verflochten sind, scheint niemand zu zweifeln.
(eine ausführliche Analyse von Boko Haram von mir erscheint in der Juni-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik)