Zamzams Glück

Puntland wurde als Piratenhort am Horn von Afrika berüchtigt. Von den Millionenlösegeldern aber haben die meisten Bewohner nichts gesehen. Sie leben bis heute in bitterer Armut, auch wenn manchmal kleine Wunder geschehen.

Mit weit aufgerissenen Augen und ausgebreiteten Armen läuft Zamzam durch den sandigen Hof, mit ihren Lippen macht sie Brummgeräusche. Der rote Staub wirbelt durch die heiße Luft, doch Zamzam stört das nicht. Die Dreijährige ist tief in ihr Spiel vertieft. „Wenn ich Zamzam so sehe, erkenne ich sie kaum wieder“, sagt Benson Otieno, der für die Hilfsorganisation World Vision arbeitet. Als er vor zwei Jahren zum ersten Mal einen Blick auf Zamzam warf, zuckte er noch unwillkürlich zusammen. „Zamzam war Haut und Knochen, ein derart unterernährtes Kind hatte ich hier noch nicht gesehen.“ Eigentlich war Otieno in die Armensiedlung am Rand der puntländischen Hauptstadt Garowe gekommen, um mit den Bewohnern – wie Zamzam Flüchtlinge aus der Dürre- und Bürgerkriegsregion im Süden Somalias – über Schulunterricht zu beraten. Doch stattdessen drehte Otieno um und besorgte Notnahrung für Zamzam. „Ich war mir nicht sicher, ob sie durchkommen würde – sie war sehr geschwächt.“ Das Bild, das ein Fotograf von dem damals einjährigen Baby auf dem Arm ihrer kranken Mutter machte, ging um die Welt. „Als ich Zamzam sah, wusste ich, dass wir ein Programm für unterernährte Kinder vorbereiten müssen“, erinnert sich Otieno. Und tatsächlich nahm die Zahl unterernährter Kinder in den Wochen nach der schicksalhaften Begegnung dramatisch zu. „Wir waren vorbereitet, das hatten wir Zamzam zu verdanken.“

Puntland liegt im äußersten Osten Afrikas, an der Spitze des afrikanischen Horns. Im Süden grenzt Puntland an Somalia, ein von Warlords und Islamisten in zwei Jahrzehnten Gewaltherrschaft zugrunde gerichtetes Land. Westlich liegt Somaliland, das sich 1991 unabhängig erklärt hat und bis heute weitgehend friedlich ist. Wie ein Puffer dazwischen liegt Puntland, seit 1998 autonom regiert, im Selbstverständnis aber immer noch Teil Somalias. Von Puntlands Küste zogen zuletzt mit Maschinengewehren und Raketenwerfer bewaffnete Seeräuber aus, um europäische Frachter zu kapern und gegen hohe Lösegelder freizulassen. Über 130 Millionen Euro sollen Puntlands Piraten alleine 2011 verdient haben, trotz Marinepatrouillien von NATO und EU. Den großen Reibach aber machten Hintermänner, bei Puntlands Bevölkerung kam kaum etwas von den Millionen an. Der Landstrich gehört bis heute zu den unterentwickelsten in ganz Afrika.

„Wir besitzen genau ein Fahrzeug, um Bedürftige zu erreichen“, sagt Abdirazak Hersi Hassan, Direktor in Puntlands Gesundheitsministerium. „Viele Dörfer sind mehrere Tagesreisen entfernt, und die Hälfte der Bevölkerung lebt bis heute nomadisch – die können wir praktisch nicht versorgen.“ In fast allen Statistiken liegt Puntland ganz hinten: 135 von 1000 Kindern sterben vor ihrem fünften Geburtstag, der globale Durchschnitt liegt bei 51. Die Impfraten waren zuletzt einstellig, das Erreichen der Zweistelligkeit gilt als großer Erfolg. Ob die Zahlen die ganze Misere abbilden ist ungewiss, denn auch für genaue Statistiken fehlen Geld und Personal. „Ausgebildete Krankenschwestern oder Nothelfer zu finden, ist unser größtes Problem“, sagt Hersi. Von Ärzten will er gar nicht reden: für 3,9 Millionen Puntländer gibt es davon gerade einmal 100, die meisten davon im Dienst von Hilfsorganisationen. Für Hersi bleibt nur, den Mangel zu verwalten. „95 Prozent unseres Etats sind externe Zuschüsse. Wir haben eine Gesundheitsstrategie entwickelt, aber ohne Geld von Hilfsorganisationen könnten wir nichts davon umsetzen.“

Wie der Mangel konkret aussieht, zeigt die Gesundheitsstation „Mutter und Kind“, die mitten in Puntlands Hauptstadt Garowe steht. In einem stickigen Raum, wo das Thermometer mehr als 35 Grad anzeigt, sitzen geduldig Mütter mit ihren Kindern und warten – darauf, dass eine der beiden Schwestern den dürren Babys den Armumfang misst. Nur wer schwerst unterernährt ist, bekommt die begehrte Zusatznahrung aus der Tube, die den Babys ein paar dringend benötigte Gramm auf den Knochen versprechen. Mohammed, der anderthalbjährige Sohn der jungen Salima Abdi, ist an Essen so wenig gewöhnt, dass er die mit Wasser verdünnte Paste kaum runterwürgen kann. „Wir haben kaum etwas, was wir ihm geben können“, klagt Salima, deren Mann nur selten Arbeit findet. Ähnliche Sorgen plagen Cadar Siyad Mohammed, die in der Gesundheitsstation entbunden hat – nur jede zehnte Mutter macht das. Ihr Sohn Abdi schlummert auf ihrem Schoß, während sie vor ihrer Hütte aus zerdrückten Metallkanistern und Sperrholzbrettern sitzt. „Ich bin dankbar für die Hilfe, die ich in der Klinik bekommen habe“, sagt die 22-jährige. Abdi ist ihr erstes Kind, auf die Geburt hat sie sich gewissenhaft vorbereitet. „Wenn Abdi krank wird, werde ich wieder dorthin gehen – das nimmt mir eine Sorge, doch es bleiben noch genug.“

Dabei hat Puntland in den vergangenen zwei Jahren einen Aufschwung erlebt. Seit Puntlands Präsident Abdirahman Mohamud Farole Geberländern seine Hilfe im Kampf gegen die Piraterie versprach, flossen großzügige Hilfen. In der einst so unscheinbaren Siedlung, die auf allen Seiten von unfruchtbarer Steinwüste umgeben ist, sind in den vergangenen zwei Jahren Hotels, Restaurants, Autovermietungen und Dienstleistungsbetriebe aus dem Boden geschossen. Ihre Kunden sind vor allem UN-Angestellte und Mitarbeiter der gut 50 in Puntland aktiven Hilfsorganisationen. 60.000 Einwohner hat Garowe heute. Doch jetzt sind die Piraten weg, und die Hilfen werden vermutlich folgen. Denn seit vergangenem Jahr sitzt in Mogadischu wieder eine anerkannte Regierung. Präsident Hassan Sheikh Mohamud gilt als integer; ihm haben Geberstaaten Millionen zugesagt. Viele fürchten, dass der Aufschwung in Mogadischu ein Ende des kurzen Booms in Puntland zur Folge hat.

Selbst in Jilab, wo die dreijährige Zamzam ihre Runden dreht, kann man die Angst spüren. Dabei haben die, die hier wohnen, Glück gehabt. 600 Häuser aus Stein hat World Vision in der Mustersiedlung am Stadtrand von Garowe gebaut, mit Geld aus Deutschland und den USA. Im Mai sind sie den bedürftigsten Familien übergeben worden. Seitdem ist auch Zamzam Eigentümerin eines zehn Quadratmeter großen Hauses. „Wir wollten uns auf diese Weise dafür bedanken“, sagt Benson Otieno, der Zamzam mit Notnahrung und Antibiotika wahrscheinlich das Leben gerettet hat. Von all dem ahnt das spielende Mädchen nichts.

Ein paar Häuser weiter leben Mohammed Said und seine Frau Zaina. „Ich bin Soldat und arbeite für die Regierung“, sagt Said. „Aber seit sieben Monaten habe ich keinen Sold mehr bekommen. Kameraden von mir erpressen Schutzgeld, aber ich bin ehrlich geblieben – jetzt sichere ich diese neue Siedlung, aber wann ich dafür bezahlt werden, weiß ich nicht.“ So wie Said geht es vielen Regierungsangestellten. Ladenbesitzer und Unternehmer in Jilab merken schon länger, dass die Leute weniger Geld in den Taschen haben. „Ich habe heute noch so gut wie nichts verkauft“, seufzt Deka Abdi Osman, die hinter dem Tresen einer Bude aus knallrot angestrichenem Wellblech steht. Die Toastpakete, Dosenbohnen und anderen Allerweltsgegenstände im notdürftig zusammengezimmerten Regal hinter ihr leuchten in der untergehenden Abendsonne. Gleich wird sie schließen. „Wir haben vor vier Monaten aufgemacht, aber das Geschäft will einfach nicht laufen.“

Unter dem Druck leidet auch Zamzams Mutter Leilah Mohammed Omar. Zamzams Geschichte hat schon viele Journalisten und Fotografen nach Jilab gelockt. Geduldig lässt sich Omar mit ihrer Tochter und anderen ihrer insgesamt sieben Kinder fotografieren, obwohl ihr jedes neue Bild neuen Ärger einhandelt. „Die Nachbarn denken, dass die Besucher mich bezahlen.“ In Wirklichkeit aber sei sie auf die Hilfe der Gemeinschaft im Dorf angewiesen. „Ich habe nichts, ich würde gerne in Garowe als Putzfrau arbeiten gehen, aber niemand will auf meine Kinder aufpassen – die denken ja alle, ich sei reich.“ So hat die gut gemeinte Hilfe neue Not geschaffen. „Ich will mich nicht beschweren, ich genieße es, dass Zamzam und ihre Geschwister in der Sicherheit dieses Hauses aufwachsen können.“ Wieder hofft Omar auf Hilfe. Doch ob die kommen wird? Wunder, sagt sie resigniert, gibt es doch eigentlich nur einmal im Leben. Ihres ist bereits geschehen.

(zuerst erschienen im Sonntag)